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    Kein Platz

    Leben in Suto Orizari, Europas größtem Roma-Viertel

    Laura Meschede

    Einleitung

    Der Unterschied

    Der Unterschied

    Fühlst du dich als Deutsche? Nein, sagt Antoneta. Ich mag dort geboren sein, aber ich war zu jung. Ich erinnere mich gar nicht mehr an Deutschland.   

    Fühlst du dich als Kosovarin? Nein, sagt Antoneta. Das mag in meinem Pass stehen, aber ich kenne den Kosovo doch gar nicht. Ich spreche nicht einmal Albanisch.

    Fühlst du dich als Mazedonierin? Nein, sagt Antoneta, ich mag dort leben, aber hier will mich ja niemand haben. Ich würde alles geben, um von hier wegzukommen.

    Ich bin Romni, sagt Antoneta.  

    Aber was heißt das?

    In Europa leben Schätzungen zufolge zwischen acht und zwölf Millionen Roma. Gäbe es ein „Romanien”, es hätte mehr Einwohner als Österreich. Die Sinti und Roma, so sagen Umfragen, verbinden die Deutschen tendenziell mit Kriminalität, Betteln, Wohnungslosigkeit und Nomadentum - wobei 93 Prozent keine Ahnung haben, was eigentlich der Unterschied zwischen „Sinti” und „Roma” sein soll.   

    Antoneta ist 20. Sie lebt in Suto Orizari, Europas größtem Roma-Viertel am Rande der mazedonischen Hauptstadt Skopje. Drei Monate lang habe ich sie dort begleitet. Um herauszufinden, wer „die Roma” eigentlich sind.

    Antoneta und ich sind im gleichen Land geboren, 300 Kilometer von einander entfernt: Sie in Tübingen, ich in München. Sie 1995, ich 1994.

    Unsere Leben hätten parallel verlaufen können. Aber Antoneta ist Romni. Und deshalb lebt sie heute, zwanzig Jahre später, als Asylbewerberin in Mazedonien. Ohne Studium, ohne Job, ohne Perspektive. Eine Mensch gewordene Statistik: Mehr als 70 Prozent der Roma in Mazedonien sind arbeitslos, 96 Prozent schaffen es nicht an die Universität. Was ist passiert?

    Das lange Warten

    Alltag in Suto Orizari

    In Suto Orizari steht die Zeit still. Alle warten: Auf ein besseres Leben, die Erlösung, eine winzig kleine Chance. Denn Handeln hat hier noch nie viel geholfen.

    Wenn man Facebook fragt, dann wohnt Antoneta in Frankreich. Als ihren Wohnort hat sie „Paris” angegeben. Ihr Anzeigenbild ändert sie alle paar Wochen, aber das Motiv bleibt immer gleich: Der Eiffelturm. Fotographiert durch ein verregnetes Fenster. Gezeichnet mit schwarzem Stift vor einer aufgehenden Sonne. Halb verborgen hinter einem Kinderkarussell. Im Winter. Im Sommer. An Silvester. Auf ihrem aktuellen Profilfoto wird er fast verborgen durch eine Straßenlaterne, darüber hat jemand in geschnörkelten Lettern den Schriftzug „Someday” gesetzt: „Eines Tages.”

    Antoneta war noch nie in Frankreich. Sie lebt in Suto Orizari, genannt „Shutka”, einem Roma-Viertel am Rande der mazedonischen Hauptstadt Skopje. In Shutka riecht die Luft nach Diesel und verbranntem Plastik. Auf den geteerten Straßen bilden zahllose Risse ein abstraktes Muster, das die darüberfahrenden Autos zum wackeln bringt. „Europas inoffizielle Roma-Hauptstadt” hat der Spiegel das Viertel einmal pathetisch genannt. Wie viele Roma hier leben, weiß man nicht – 8.000 sollen es offiziell sein, realistisch sind eher 30.000. Weit mehr als jeder Zweite hier ist arbeitslos.

    Paris ist ganz anders als Shutka, glaubt Antoneta. Es ist die Stadt der Liebe, das gefällt ihr. Auf ihrem Telefon hat sie ein Foto von der Pariser Pont des Arts-Brücke, an die Pärchen hunderte bunter Schlösser mit ihren Namen gehängt haben. Antoneta schaut sich dieses Foto häufig an und denkt darüber nach, wie ihr Leben aussähe, wenn sie in Frankreich leben würde. Paris ist Antonetas Traum, so wie jeder hier in Shuto Orizari einen Traum hat. Wenn Paris die Stadt der Liebe ist, dann ist Shutka das Viertel der unerfüllten Träume.

    17. Juni, Shutka, Amdi-Pasha-Moschee: Antoneta wirft sich so schwungvoll vor Allah auf den Boden, dass ihr Kopftuch verrutscht. Schnell schiebt sie es wieder nach vorne – die Haare müssen ganz bedeckt sein. „Allahu akbar“, tönt es durch die Moschee. Antoneta steht auf und hebt ihre Hände. Nur um gleich darauf wieder niederzuknien, einmal, zehnmal, hundertmal.

    Es ist der Abend vor Ramadan, dem muslimischen Fastenmonat und die Moschee ist so voll, dass sich die Gebetsteppiche beinahe überlappen. Antoneta ist gut gelaunt. Sie geht gerne in die Moschee. Schon vor zwei Stunden hat sie angefangen, sich vorzubereiten: Ein weites T-Shirt herausgesucht und einen langen Rock, das Kopftuch festgemacht; Gesicht, Hände und Füße gereinigt. Ab morgen wird sie fasten, einen Monat lang.

    Gott ist in Shutka sehr präsent. Schon am frühen Morgen kann man die Muezzins von den Minaretten der Moscheen singen hören, am Nachmittag treffen sich die Sufis zum Tanzen in ihrem Tekken, die Zeugen Jehovas klingeln in fester Regelmäßigkeit an den Türen und in jedem zweiten Taxi schützt ein orthodoxes Kreuz den Fahrer vor Unfällen. Ob der richtige Gott nun in der Moschee am Anfang des Viertels oder weiter hinten in der protestantischen Kirche wohnt, ist den meisten Bewohnern Shutkas dabei relativ gleichgültig. In ihrem Glauben geht es mehr um Vertrauen denn um Regeln.

    Antoneta sieht sich weder als Sunnitin noch als Schiitin. Außerhalb der Moschee trägt sie kein Kopftuch. Sie glaubt an Allah, das ist das einzig Wichtige. „Immer, wenn ich die Hoffnung verliere, denke ich daran, dass Allah auf mich aufpasst”, sagt sie. „Dann glaube ich wieder daran, dass sich mein Leben eines Tages zum Besseren wenden wird.”

    Antoneta und ihre Familie, die Berishas, sind vor 16 Jahren nach Mazedonien gekommen. Weil in ihrer Heimat, dem Kosovo, Bomben gefallen sind und sie, eine Roma-Familie, nicht mehr erwünscht waren. Seither leben sie in Suto Orizari und warten darauf, dass der mazedonische Staat über ihren Asylantrag entscheidet. Zurück in ihr Haus im Kosovo können sie nicht, ihr Nachbar, ein Albaner, hat gedroht, sie umzubringen, wenn sie dort noch einmal auftauchen. Trotzdem wurde ihr Asylantrag bislang in allen Instanzen abgelehnt. Geld vom Staat bekommen sie darum nicht. Genauso wenig wie die Erlaubnis, zu arbeiten.

    Das Warten hat in Shutka System. Jeder hier wartet auf irgendetwas: Auf einen Job, eine Chance, ein Wunder. Antonetas Papa Fatmir steht jeden morgen an einer großen Straße und wartet darauf, dass ihm jemand eine Arbeit für den Tag gibt. Ihr Bruder Arton schreibt jede Woche Briefe an Politiker und Aktivisten und wartet darauf, dass eines Tages jemand zurückschreibt und ihm Geld schickt, um Shutka zu verlassen. Antoneta möchte studieren, aber dafür bräuchte sie eine Aufenthaltserlaubnis – und Geld für die Studiengebühren. Sie hat nichts von beidem. Also wartet sie. So wie die ganze Familie Berisha. Ein Leben im Stand-By-Modus.

    Wie viele Menschen in Shutka leben, ist auch deswegen unklar, weil tausende von ihnen keinen Pass haben. Auf dem Papier existieren sie nicht. Und wer nicht existiert, der bekommt auch kein Geld vom Staat, der bekommt keine Krankenversicherung, der kann nicht einmal zur Schule gehen. Er muss betteln gehen, „suchen”, wie man hier in Shutka sagt. Die Berishas haben Dokumente, kleine gelbe Kärtchen, die sie als Flüchtlinge ausweisen. Für eine Sozialversicherung oder Arbeitserlaubnis reicht das nicht. Aber immerhin haben Antonetas Mutter und ihr Bruder Arton einen Job gefunden, es ist Schwarzarbeit und schlecht bezahlt, aber es reicht, damit niemand betteln gehen muss.

    „Jeder kann es schaffen“ ist die Devise unserer Zeit. Ein Versprechen, das wertlos ist in Suto Orizari. Die Menschen hier wissen, dass niemand sie einstellen wird. „Jeder kann es schaffen“ ist hier trotzdem bekannt. Es flimmert über die Bildschirme, „Germanys Next Topmodel“, „Deutschland sucht den Superstar“, die Sendungen sind beliebt hier, viele Menschen haben Deutsch damit gelernt. Eine glitzernde Parallelwelt, in der niemand sich darum sorgt, ob er sich morgen etwas zu essen leisten kann. „Jeder kann es schaffen“ - in Deutschland. Dort gibt es Jobs und Sicherheit, verspricht der Fernseher. In Mazedonien gibt es keine Versprechen. Und keine Arbeit.

    Antoneta arbeitet ehrenamtlich für eine Hilfsorganisation, das bringt kein Geld, doch es gibt ihr das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun. Wenn sie nicht arbeitet, dann sitzt sie zuhause und tippt auf ihrem Handy. Oder sie läuft durch Shutka. Shutka, auf dessen Straßen sich glöckchenbehangene Pferdewagen mit rauchspuckenden BMWs abwechseln. Die Pferdewagen ziehen Anhänger hinter sich her, bepackt mit Plastikflaschen oder Kartons, frisch aus dem Müll gezogen, bereit zum Verkauf, die BMWs sind getunt. Jene Flaschensammler, die sich kein Pferd leisten können, hängen die Wagen hinten an ihr Fahrrad. Das ist mühselig, es gibt kaum Schatten hier, die Luft ist schlecht, der Weg zum Kartonsammeln in die Innenstadt weit.

    Antoneta schlendert über den Markt, dutzende Händler bieten Socken, Trainingshosen und bunte Kleider feil, Adidas zehn Euro, Nike acht Euro, Schuhe gibt es ab zwei Euro. Von den Ständen mit den selbst gebrannten CDs schallt Musik, die Menschen kennen sich hier, alle zwanzig Meter ein Bekannter, mit dem man Smalltalk führen kann. Antoneta mag an Shutka am Liebsten, dass alle hier die gleiche Sprache sprechen, Romanes. Und dass niemand sie blöd anschaut, weil sie Roma ist.

    Am 2.Juni 2015 bekommt die Familie Berisha einen Brief vom mazedonischen Innenministerium. Die letzte Instanz hat entschieden: Der Asylantrag der Familie ist abgelehnt. Die Berishas müssen Mazedonien verlassen.

         

    Facebook und Vorurteil

    Leben zwischen Klischee und Moderne

    Das Klischee erwartet Wohnwagen und Naturverbundenheit, die Tradition frühe Heirat und schöne Kleider. Antoneta würde beides gerne hinter sich lassen - doch das ist nicht so einfach.

    Die Berishas schließen ihre Haustür niemals ab. Deswegen ist auch keiner überrascht, als plötzlich Gäste im Wohnzimmer stehen. „Hallooo!”, ruft Fatmir überschwenglich, es werden Schultern geklopft und Hände geschüttelt. Antoneta nimmt den Besuchern die Mäntel ab. Ihr Vater Fatmir setzt sich mit seinen Freunden auf die Couch, Zigaretten werden herumgereicht, im Hintergrund läuft der Fernseher. Antoneta kocht einen Kaffee. Dann setzt sie sich auf die Couch und liest auf ihrem Smartphone Facebook-Nachrichten. Wann immer einer der Besucher sein Glas ausgetrunken hat, geht sie in die Küche, um es wieder aufzufüllen. Aus dem Fernseher dröhnt die Stimme von Esma Redzepova, sie singt auf Romanes, der Sprache der Roma. Antoneta macht Justin Bieber auf ihrem Smartphone an und steckt sich Kopfhörer in die Ohren.

    Antoneta wird so lange für den Kaffee ihres Vaters verantwortlich sein, bis sie heiratet. Wann das sein wird? „Bald”, sagt Antonetas Bruder Arton. „Später”, sagt Antoneta. Wenn es nach der Tradition ginge, dann wäre sie schon lange eine Ehefrau. Mit ihren 20 Jahren ist sie fast schon eine alte Jungfer hier in Suto Orizari. Das sagt sie selbst und lacht dabei. So lange sie noch nicht studiert hat, möchte sie eine alte Jungfer bleiben.

    Verrucht sollen sie sein, die Roma-Frauen, das sagt das Klischee. Allzeit verfügbar, mysthisch, die wohlgeformten Hüften unter wallenden Kleidern verborgen. „Wo ist meine Zigeuner-Ehefrau heute Nacht?”, singt Leonard Cohen, „Ich bin zu jung, um zu sterben, wenn du mich verlässt, denn ich bin eine Zigeunerin” heißt es bei Shakira.

    Häuslich sollen sie sein, die Roma-Frauen, das sagt die Tradition. Sex nur in der Ehe, die ersten Kinder in jungem Alter, ein gottgefälliges Leben führend. „Als meine Frau und ich verheiratet wurden, war sie siebzehn”, sagt Antonetas Bruder Arton. „Das ist das richtige Alter zum Heiraten.”

    Antoneta hat mit dem Klischee nichts zu tun und sie mag auch die Tradition nicht. Dennoch kommt ihr beides immer wieder in die Quere. Nicht nur beim Thema Hochzeit.   

    In Deutschland verbinden die Menschen Studien zufolge mit den Roma in erster Linie die Eigenschaften „naturverbunden”, „kinderlieb” und „kriminell”. Das Bild der Roma-Familien, die im Wohnwagen durch die Felder ziehen und vom Betteln und Stehlen leben, wurde so lange in Popsongs besungen und Filmen verarbeitet, bis es eine Wahrheit wurde. Antonetas Familie träumt von einem eigenen Haus, so, wie sie es in Jugoslawien hatten. Mit Garten und einem eigenen Zimmer für jeden.   

    Die Wohnung der Berishas hat drei Zimmer und einen geräumigen Gang, der die Küche ersetzt. Die Berishas wohnen hier zu elft: Antoneta, ihre Eltern Azemine und Fatmir und ihre beiden Brüder mit ihren Frauen und Kindern. Antoneta schläft zusammen mit ihren Eltern im Wohnzimmer, zum Schlafen legt sie eine Unterlage auf die durchgesessene braune Couch.   

    Tagsüber spielen im Wohnzimmer die Kinder ihrer Brüder: Die anderthalbjährige Sara, der dreijährigen Said und die dreijährige Semina. Sie sind den ganzen Tag zuhause, es gibt keinen anderen Ort, an dem sie spielen könnten: Die Straßen in Suto Orizari sind stark befahren und voller Löcher, einen Spielplatz gibt es nicht. Und um in die Innenstadt von Skopje zu fahren, braucht man ein Busticket, es kostet 25 Denar, fast 50 Cent, das kann sich die Familie nur selten leisten.

    Trotz der drei kleinen Kinder ist es bei den Berishas immer sehr ordentlich. Antonetas Schwägerinnen Bear und Ariane sind fast den ganzen Tag mit der Hausarbeit beschäftigt. Sie räumen das Plastikspielzeug ihrer Kinder zur Seite, decken den Tisch auf und ab, kochen Kaffee oder bereiten das Essen für die Familie vor. „Elf Leute können in sehr kurzer Zeit sehr viel Chaos veranstalten”, sagt Bear und lächelt müde. „Und wenn alle mit ihrem Frühstück fertig sind, muss ich eigentlich schon anfangen, das Mittagessen zu kochen.”

    Bear und Ariane sind Zwillingsschwestern. Sie wurden mit Antonetas Brüdern Arton und Driton verheiratet, als sie 17 waren. Das war vor sieben Jahren. Heute hat Bear zwei Kinder, Ariane ist das zweite Mal schwanger. „Ich bereue nicht, dass ich Arton geheiratet habe”, sagt Bear. „Ich liebe ihn. Aber ich verstehe, dass Antoneta nicht heiraten will - es macht unfrei.”  

    Bear liebt Kosmetik. In ihrem Zimmer hat sie eine Box voller Schminke, über die Jahre zusammengesammelt, der Nagellack wurde ihr von einer Freundin geschenkt, der Lidschatten stammt von ihrer Oma, der Lockenwickler von ihrem Vater. Bear würde gerne als Kosmetikerin arbeiten. Aber das geht nicht - wer soll sich statt ihrer um den Haushalt kümmern?

    Auch wenn es in der Familie niemand offen ausspricht: Für Antoneta wird die Zeit knapp. Wenn sie erst einmal verheiratet ist, wird sie nicht mehr studieren können. Und auch wenn ihr Vater sie in ihrem Wunsch unterstützt, erst nach dem Studium zu heiraten: Noch sieht es nicht so aus, als sei ein baldiger Studienbeginn realistisch. In wenigen Monaten wird die Familie in den Kosovo abgeschoben werden. Antoneta kann kein albanisch. Und mit jedem Tag, der verstreicht, wird der Druck größer, den Antrag eines jungen Mannes anzunehmen.

    5.Mai, Shutka, auf dem Balkon der Berishas: Die Ziege guckt, als ahne sie, dass ihre Karriere als Haustier nur von kurzer Dauer sein wird. Antoneta guckt zurück, eine Sekunde lang, und läuft dann rasch an ihr vorbei in die Wohnung. Traditionen sind ihr besonders dann zuwider, wenn geschlachtete Tiere darin vorkommen.

    Papa Fatmir und Bruder Arton sind große Fans von Tradition, aber der Ziege zu Leibe rücken wollen sie auch nicht. „Ich will sie nicht umbringen“, sagt Arton. „Ich auch nicht“, sagt Fatmir. „Mähh”, sagt die Ziege.

    Morgen, am 6.Mai, wird in Shutka das Georgensfest gefeiert, einer der wichtigsten Feiertage der Roma auf dem Balkan. Schon den ganzen Tag hört man es durch Shutkas Straßen meckern, auf einem extra für den Festtag errichteten Markt bieten dutzende Händler Ziegen und Schafe feil. Gefeiert wird vor allem der Frühlingsbeginn, traditionell mit einem selbstgeschlachteten Schaf, das im Kreise der Familie verzehrt wird. Bei den Berishas ist das Schaf eine Ziege, die war günstiger. Die Nacht über verbringt sie angeleint auf der Terrasse.

    Einen Abend später hat die Ziege eine Reis-Gemüse-Mischung in ihrem Bauch und eine knusprige braune Farbe angenommen. Aus den Boxen dröhnt traditionelle Musik, zum dritten Mal das gleiche Lied, „Seminaaaa“ singt ein Mann mit wehmütiger Stimme im Refrain. Fatmir gibt seiner dreijährigen Enkelin Semina einen Kuss auf die Stirn. „Semina bedeutet Prinzessin“, sagt er. Semina lacht. Neben ihr dreht sich die einjährige Sara auf wackligen Füßen im Kreis.

    Die Frauen der Familie haben weiße, wallende Kleider angezogen und ihre Haare hochgesteckt. Nur Antoneta ist in Jeans geblieben. Driton schießt mit seinem Handy Fotos von den Frauen und Kindern in ihren hübschen Kleidern, „lächeeeln“, dann ziehen sie den Kindern wieder Alltagsklamotten an, ihre Kleider sollen nicht dreckig werden beim Essen. Antoneta tippt desinteressiert auf ihrem Handy. „Antoneta mag diese Kleider nicht“, sagt Arton. „Aber irgendwann wird sie heiraten und dann muss sie sich auch so anziehen.“

    Antoneta widerspricht nicht. Sie tauscht einen langen Blick mit ihrer Mutter Azemine. Die beiden Frauen nicken sich zu. Antoneta lächelt.
    Ein paar Tage später aktualisiert sie ihren Facebook-Status. „Schönheit ist, glücklich mit sich selbst zu sein - innen wie außen”, schreibt sie. „Ganz egal, was andere von dir denken.”

    Kein Platz

    Nirgendwo willkommen


    Antoneta hat schon in drei verschiedenen Ländern gelebt. Willkommen war sie in keinem davon. Denn ein Romanien gibt es nicht.

    Immer wenn die Frau im Fernseher die Lottozahlen verliest, setzt sich Fatmir auf die Couch, zieht seine Brille auf und schreibt konzentriert mit. „Er denkt, er könne ein System entwickeln, mit dem er die Lottozahlen voraussagen kann”, sagt Antoneta und lacht. „Er will sich davon einfach nicht abbringen lassen.”

    Wenn Fatmir im Lotto gewinnt, dann möchte er von dem Geld ein Haus im Kosovo kaufen. „Es soll aussehen wie unser altes Haus”, sagt er. Aus einer Mappe mit Dokumenten zieht er ein Foto hervor, es zeigt eine schneebedeckte Wiese, umzäunt von einem Gartenzaun. „Das ist unser Platz”, sagt Fatmir und streicht zärtlich mit dem Finger darüber.

    „Hier drüben war unsere Küche”, erklärt er und deutet auf einen Punkt auf der Mitte der Wiese. „Und hier”, der Finger wandert langsam nach rechts, „war unsere Terrasse.” Wie immer, wenn Fatmir über sein altes Haus spricht, bekommt seine Stimme einen wehmütigen Ton, ein wenig, als spräche er von einer Frau, die er vor sehr langer Zeit einmal geliebt hat.

    Fatmirs Haus wurde niedergebrannt. Allem Anschein nach von einem der Nachbarn. Sechzehn Jahre ist das her. Der Nachbar wohnt noch immer im Haus nebenan. Sollten sie je wiederkommen, das hat er den Berishas ausrichten lassen, dann würde er sie umbringen. Fatmir hat einen Brief vom Bürgermeister seiner alten Gemeinde, der ihm das bestätigt.

    Deshalb leben die Berishas jetzt in Mazedonien. Als Flüchtlinge in einem Land, aus dem im Jahr 2014 noch knapp 9000 Menschen nach Deutschland geflohen sind. In einem Land, in dem sie nicht arbeiten dürfen und nicht studieren und in dem sie jedes weitere Jahr vor Gericht erstreiten müssen. In einem Land, das sie nicht haben will. So wie auch kein anderes Land sie haben will. Die Berishas waren noch nie irgendwo willkommen.   

    Antoneta ist in Deutschland geboren worden, 1995, in Tübingen. Zwei Jahre vorher war ihre Familie als Asylbewerber aus dem heutigen Kosovo nach Deutschland gekommen. Jugoslawien befand sich im Verfall, die Arbeitslosigkeit stieg immer weiter und die Nachbarn der Berishas, Albaner, waren plötzlich gar nicht mehr begeistert von den Roma im Haus nebenan. „In Deutschland”, sagt Antonetas Bruder Arton, „da hat mich niemand Zigeuner genannt. Das werde ich nie vergessen.” Er sagt es auf deutsch.

    Seit der Brief vom mazedonischen Innenministerium gekommen ist, ist Deutschland bei den Berishas wieder häufiger ein Thema. An den Abenden sitzen Antonetas Vater Fatmir und ihr Bruder Arton auf der Couch und diskutieren lautstark ihre Möglichkeiten: Sollen sie freiwillig zurückgehen in den Kosovo, bevor die Polizei kommt, um sie abzuschieben? Oder sollen sie es noch einmal in Deutschland versuchen? „Die schieben uns doch wieder ab, wenn wir das versuchen”, ruft Arton. „Und dann? Wovon willst du dann leben? Sollen wir betteln gehen?”. Fatmir vergräbt sein Gesicht in den Händen. Antoneta sitzt unbeteiligt neben den beiden Männern auf der Couch und tippt auf ihrem Handy.   

    Deutschland hat ein schwieriges Verhältnis zu den Roma. Während des Nationalsozialismus wurden Sinti und Roma - ebenso wie die Juden - in Konzentrationslager gesperrt und ermordet. Aber anders als der Holocaust ist der Porajmos, der Völkermord an den europäischen Roma, in Deutschland heute nur den wenigsten ein Begriff. Die Roma haben nie wirklich Entschädigungen erhalten und noch 1956 entschied der Bundesgerichtshof in einem Urteil, die Verfolgung der Roma sei eine notwendige „polizeiliche Präventivmaßnahme” zur Bekämpfung der „Zigeunerplage” gewesen und nicht aus „rassenideologischen“ Gründen erfolgt.  

    Die Roma haben keine Lobby. Sie haben keinen Staat, der sich für ihre Rechte einsetzen könnte und keine Macht oder Ressourcen, um derentwillen sich andere Länder mit ihnen gut stellen wollten.

    Als Konsequenz aus dem Holocaust hat Deutschland vereinfachte Einwanderungsregeln für Juden erlassen. Die Nachkommen der Ermordeten sollen die Möglichkeit bekommen, Deutschland als ihre Heimat anzusehen. Unter jungen Israelis ist Berlin auch deshalb eine beliebte Stadt für Auslandsaufenthalte, sie bekommen hier sehr einfach ein Visum. Für Roma gelten diese Erleichterungen nicht. Wollten die Berishas nach Deutschland ziehen, so wäre ihre einzige Möglichkeit, Asyl zu beantragen. Das würde abgelehnt werden: Ihr Heimatland Kosovo gilt - ebenso wie Mazedonien – als „sicherer Herkunftsstaat”. Asylanträge von hier werden ohne vorherige Prüfung als „unbegründet” abgelehnt.   

    Zwei Jahre nach Antonetas Geburt werden die Berishas aus Deutschland abgeschoben. Zurück in den Kosovo, der damals noch ein Teil Jugoslawiens ist. 

    Als die erste Bombe fällt, sitzt Antonetas Papa Fatmir gerade mit ihrem Bruder Arton auf der Terrasse ihres Hauses. Es ist der 24.März 1999, ihre Abschiebung aus Deutschland ist keine zwei Jahre her. Soeben ist die NATO in den Kosovokrieg miteingestiegen. Das Haus der Familie Berisha befindet sich nur 2 Kilometer vom NATO-Luftstützpunkt entfernt. Fatmir und Arton sehen die französischen Flieger über ihrer Nachbarschaft, sie hören die Explosionen und dann fragt Arton: „Was ist das?”. Fatmir zögert. Wie erklärt man einem Elfjährigen den Krieg? „Das ist ein Film”, sagt er schließlich, „sie drehen einen Actionfilm.”

    Arton ist zufrieden, er kennt einige solcher Filme. Der nächste Einschlag kracht lauter, Fatmir zuckt zusammen, Arton sagt beruhigend: „Mach dir keine Sorgen, Papa, das ist ja nicht echt“. Dann müssen sie ins Haus, Mama Azemine hat einen spontanen Urlaub angekündigt. Antoneta, vier Jahre, weint und quengelt, „warum ist es denn so dunkel hier?”, fragt sie immer wieder, Arton sieht nicht ein, warum er sich mit fünf Klamottenschichten ins Bett legen soll. Der Krieg ist angekommen in der Familie Berisha. Er wird sie nicht mehr loslassen.

    An dem Krieg, der in den 90er-Jahren das Ende Rest-Jugoslawiens einläutete, war auch Deutschland mit beteiligt. 1999 bombardierte Deutschland mit der NATO den Kosovo – es war die erste deutsche Kriegsbeteiligung nach dem 2.Weltkrieg. Dieser Einsatz läuft bis heute: Aktuell befinden sich noch mehrere hundert Bundeswehrsoldaten im Kosovo. Die Lage dort sei noch nicht „nachhaltig stabilisiert” heißt es von Seiten der Bundesregierung.

    Im Juli 1999 macht sich die Familie Berisha auf den Weg. Irgendwohin, weg. Nur wenige Stunden später wird ihr Haus angezündet. Es brennt bis auf die Grundmauern nieder.

    „Wir haben uns immer gut mit unseren Nachbarn verstanden“, sagt Fatmir. „Aber als der Krieg begonnen hat, haben sie plötzlich angefangen, uns zu hassen.“ Fatmir ist ein Lebemann, er redet schnell und gerne, in seinem sonnengebräunten Gesicht schneiden sich Sorgen- mit Lachfalten. Der Tisch, vor dem er sitzt, stammt noch aus der Zeit ihrer Flucht auf dem Kosovo: Eine Holzpalette, die ihnen das Flüchtlingshilfswerk UNHCR gespendet hat. Fatmir hat eine Plastikplane darübergespannt, mit Blümchen. Würden nicht die Tischbeine fehlen, das gute Stück könnte auch von IKEA stammen. „Die Albaner haben uns gehasst, weil sie dachten, wir würden mit den Serben zusammenarbeiten“, sagt Fatmir. „Und die Serben haben uns nicht geschützt. Sie hatten Angst, wir würden mit den Albanern kollaborieren.“

    Seit ihrer Flucht aus dem Kosovo haben die Berishas Mazedonien nicht mehr verlassen. Die Bilder von ihrem Platz hat ihnen ein Bekannter zugesendet. Die Drohung ihres Nachbarn, sie umzubringen, sollten sie zurückkommen, wurde ihnen von einer Hilfsorganisation übermittelt. Sie haben „ihren Platz” seit 16 Jahren nicht mehr gesehen.

    „Ich möchte Mazedonien nicht verlassen”, sagt Antoneta. „Was soll ich im Kosovo? Ich kann doch nicht einmal Albanisch.” Antonetas Stimme zittert. In den letzten Wochen haben ihr Vater und ihr Bruder fast jeden Abend über ihre Situation diskutiert, die immer gleichen Argumente ausgetauscht. Sollen sie Mazedonien verlassen oder auf die Abschiebung warten? Es geht in dieser Debatte schon lange nicht mehr darum, was besser ist. Die Frage ist nur, was am wenigsten schlimm ist. „Es ist schon ok”, sagt Antoneta. Sie hat Tränen in den Augen. „Es wird ok werden.” Sie blinzelt. „Es ist ok. Es ist ok. Es ist ok.” Ihre Tränen verschwinden. „Möchtest du ein Glas Saft?”, fragt Antoneta.

    Die Berishas verlassen Mazedonien nicht freiwillig. Am 10.August 2015 laden sie ihre Sachen in einen Laster des Flüchtlingshilfswerks UNHCR und werden in den Kosovo gefahren. Abgeschoben, mal wieder. Ein Jahr lang wird das UNHCR ihnen nun die Miete für eine kleine Wohnung zahlen, ein paar Kilometer entfernt von ihrem alten Haus. Und danach? „Ich weiß es nicht”, sagt Antoneta am Telefon. „Aber ich lerne jetzt erstmal Albanisch. Und ich will immer noch nach Frankreich.”

    Kein Platz
    1. Einleitung
    2. Das lange Warten
    3. Facebook und Vorurteil
    4. Kein Platz